Freitag, 1. September 2006
London/Day Three
Notting Hill Carnival
Sonntag
Um mal kurz eine historische Einleitung zu geben: Seit 1966 findet der Carnival jeweils am letzten August-Wochenende im Stadtteil Notting Hill/Ladbroke Grove statt, damals initiiert von in London gestrandeten Trinidad-ianern und schnell von benachbarten Inselgruppen (Jamaika etc.) für gut befunden. So zogen sie kostümiert und mit Steeldrums durch die Strassen und 40 Jahre später ist daraus eine multikulturelle Massenveranstaltung geworden. Neben einem endlosen Umzug, der sich zudem im Schneckentempo bewegt, sind die Soundsystems die Hauptattraktion. Zirka 40 davon sind über ein Areal verteilt, wofür man vom Anfang bis zum Good Times Bus (der am hinteren Ende steht) ungefähr eine Stunde Fußmarsch einplanen kann. Der Carnival beginnt gegen Mittag und hört um 19 Uhr auf (Montag geht es noch mal genau so weiter). Danach geht’s zur After-Party deiner Wahl…
Ein Sound System besteht aus mindestens einem DJ, einem Plattenspieler und zwei Boxenwänden. Gerne aber auch von allem etwas mehr. Während manche direkt auf der Rampe ihres Leih-LKWs aufbauen, treiben eine Handvoll etwas größeren Aufwand bei der optischen Gestaltung – allen voran Gaz’s Rockin’ Blues (doch dazu später).
Kleine Randnotiz: zirka 1,5-2 Millionen Leute sind an diesen 2 Tagen in Ladbroke Groove/Notting Hill unterwegs, die natürlich alle richtig feiern, ein Red Stripe nach dem anderen verklappen und sich bei den hunderten von exotischen Essensständen verköstigen. Für diese Masse Mensch haben die Verantwortlichen zirka 100 Dixies (eher weniger) und 3 Pissoirs aufgestellt. Kein Wunder, dass irgendwann in jede Ecke gepisst wird…
Die Soundsystems haben so klangvolle Namen wie Love TKO, BassByAnyMeansNecessary, Jah Observer, Rapattack, Killer Watt oder Nasty Love Mixing Lab. Da viele von denen Soca, R&B, HipHop, Ragga, Jungle oder Bashment auflegen, verweilt man dort auch nicht lange, sondern versucht ohne Hörsturz vorbei zu kommen (weil: laut können die alle). Nach 6 Jahren Notting Hill Carnival läuft es eigentlich immer auf das gleiche hinaus – Channel One, Gladdy Wax, Sancho Panza, Gaz’s Rockin Blues und Norman Jay’s Good Times.
So machten Andi und ich uns am Sonntagmittag auf den Weg, auch hier entpuppte sich das Blakemore als perfekt gelegenes Basislager. Obwohl man sich als Soundsystem sicher wie Bolle auf den Carnival freut und im Prinzip 2 x 7 Stunden zum Auflegen hat, regiert hier oft die jamaikanische Soon Come-Mentalität. Man steht vor seinen Boxentürmen und wundert sich, warum der Kram noch immer nicht funktioniert?!? Es gibt tatsächlich die eine oder andere Crew, die nachmittags um 4 noch verkabelt. Mein Tipp: einfach ne Stunde eher aufstehen.
Wir haben uns dann auf direktem Wege zu Norman Jay durchgeschlagen, der auf einem ehedem von Budweiser gesponserten (jetzt gibt es Red Stripe, schmeckt sowieso besser) Doppeldecker thront. Gast Gilles Peterson legte gerade einige seiner angejazzten Groover auf, die Sonne schien mittelwarm und es versprach, ein großer Tag zu werden. Dann übernahm Norman Jay und legte eine wirklich geniale Stunde hin – von Green Onions („Das hat noch nie besser geklungen als jetzt“ – Andi) über die Turtles (Happy Together) bis zu James Brown (Talking Loud…). Gegen 3 Uhr war es vor dem Bus allerdings schon so voll, dass es langsam begann, unangenehm zu werden. Leider hatte man den Boxenturm rechts vom Bus abgebaut, sodaß man nur vernünftigen Sound hatte, wenn man mittig vor dem Bus stand. Links davon war etwas Platz und eine Bar. Aber kein Klo. Das war auf der anderen Seite, mit 30er Schlangen davor und einer Drängelarie, um überhaupt dahin zu kommen. Ziemlich schnell wurde es recht housig und Norman begann, uns zu verlieren. Unglaubliche Enge, ständiges Geschiebe und die Unmöglichkeit, sich gepflegt zu betrinken, trieben uns recht schnell fort von der West Row.
Bei Sancho Panza um die Ecke war es ähnlich voll. Das DJ-Team aus London Clubland ist eher eine Ausnahme unter den Soundsystems (die Burschen sind weiß), haben aber mit ihrem funky Clubsound eine enorme Erfolgsstory beim Carnival geschrieben. Auch hier galt: zu voll, zu wenig Spass. Bei Gladdy Wax kann man immer mal innehalten, zum einen muß man da vorbei, zum anderen liegt garantiert immer ein Ska/Rocksteady/Reggae-Klassiker auf den Tables. Allerdings zu späterer Stunde gerne auch mit MC, der genau das macht, was alles machen: er quatscht zuviel, er ist lauter als die Musik, er nervt gewaltig.
Wir wollten aber zu Gaz Mayall und seiner Rockin Blues Meute (von denen alle Fotos dieses Tages sind), denn wir hatten auf dem Hinweg schon den gigantischen Aufbau bewundern dürfen. So schlichen wir uns von hinten durch die Powis Mews an (Toiletten!) und wurden von einer Ska-Version des Godfather Themes begrüßt. Als wir schließlich auf der Talbot Road ankamen, stieg uns sofort das Grinsen ins Gesicht, das in den nächsten zwei Stunden nur noch breiter werden sollte. Es standen nämlich The Trojans auf der Bühne, eine zusammengewürfelte Truppe mit einem Monstergeiger, Gebläse und eben jenem Gaz Mayall an Vocals/Melodica. Die meuchelten in der Folge Gassenhauer wie Kasachok und ähnliches in mitreissendem Ska-Tempo. Später kam ein schwarzer Opa dazu, dessen vorsinnflutliche Vokalakrobatik fortan nicht mehr zu stoppen war. Unmöglich nicht mitgerissen zu werden.
Und während so manches Soundsystem noch nicht in Gang war, hatte die Bande um Meister Mayall einen zirka 25 Meter breiten Aufbau hingestellt, mit drei Bars, drei LKW-großen Boxenstapeln, einer erhöhten DJ-Box mit Dinosaurier Gebiss, einem abgestürzten Flugzeug, mehreren Dinos, einem indischen Elefanten, einem zum Dino mutierten VW-Käfer, einer Bühne und was sonst noch. Dazu hatte sich die ganze Truppe – Typ Mitt-40er Engländer mit schlechten Zähnen und ebensolchen Tattoos, aber unglaublich gut drauf und feierwütig – nach dem (jährlich wechselnden) Thema verkleidet: entweder als gerade abgestürzte Flugzeug Crew oder als Dschungel-Bewohner. Mit einer unglaublichen Liebe zum Detail noch dazu. Als ich Gaz fragte, ob der Nasenring echt sei, sagte er: „ No, you got to keep it unreal!“ 3-5 ungefähr 70-jährige, groß auftanzende Elvis-Doubles rundeten den Augenschmaus ab.
By the way: Gaz Mayall (der älteste Sohn von John Mayall) soll der Besitzer von 30.000 Singles sein und hat seit 1980 eine wöchentliche Clubnight in London.
Andi und ich waren jedenfalls rundum glücklich. Nach den Trojans legte Bruder Jason Mayall (dem steht das Leben tatsächlich ins Gesicht geschrieben) noch ein paar grandiose Songs auf, größtenteils Ska mit psychedelischen Lawrence-of-Arabia-Bläsern. Das war mit Abstand das Größte, was ich beim Carnival bis dahin erlebt hatte.
Da wir zur Good Times Afterparty keine Karten mehr bekommen hatten, freuten wir uns natürlich, als Gaz seine Party ankündigte: „… a massive party, go to the end of Latimer Road. The Lock-Up. Under Westway.“ Ich versicherte mich dann noch einmal bei einem der total besoffenen Flugbegleiter, der mir auf meiner Streetmap auch zeigte, wo das ungefähr ist: nämlich 5 cm rechts vom äußeren Ende der Karte. Da es in der Gegend zu dieser Zeit keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt, machten wir uns zu Fuß auf den Weg. Eins war sicher, mit diesen Typen wollten wir noch feiern. Sodom und Gomorrha sollte ein Streichelzoo sein gegen das, was uns bevorstand. Das gute war, dass die Westway eine Art erhöhte Stadtautobahn ist, die man immer sehen konnte. Wir mussten nur weit genug nach rechts gehen… das taten wir auch. Nach einer guten Stunde hatten wir endlich die Latimer Road gefunden, am Ende war der Westway, aber die tatsächlich vorgefundene Party war für Kids und garantiert nicht für Ska- und R&B-bessesene Altfans. Als uns endlich klar war, dass wir eine Niete gezogen hatten, schlichen wir resigniert und mit wundem Geläuf zurück zur Basis und beendeten den Abend in Tränen. Und mit Pizza und Bier… (R-man)
Wie es weitergeht: Carnival, Tag 2. Mehr Gaz Mayall, etwas Channel One und früh zum Airport.
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