Montags in Stuttgart
Der Schwabenmetropole eilt ja immer gerne der Ruf des Provinziellen voraus, aber ich liebe meine Stadt, die außerdem die schönste der Welt ist. Und man kann durchaus was erleben, nehmen wir nur den vergangenen Montag, eigentlich ja kein Tag zum mögen.
Als arbeitsscheuer Gammler in Teilzeit schwinge ich mich nachmittags aufs Rad, um dem besten Plattenladen der Stadt (Second Hand Records, Leuschnerstraße) einen ausgiebigen Besuch abzustatten. Die Beute: frisches Vinyl von Roots Manuva, die 2008 verpasste Strut-Compilation „Disco Not Disco“, sowie die essentielle Singles-Compilation „Snap“ von The Jam, zu der der All Muisc Guide schreibt: "one of the greatest greatest-hits albums of all time“. – ha!
Um 18 Uhr trifft sich der denkende Teil Stuttgarts bekanntlich vor dem Bahnhof, diese Woche zum 95. Mal. Das muss man sich mal vorstellen: seit zwei Jahren demonstrieren – jeden Montag – mehrere tausend Menschen aus allen Schichten und jeglichen Alters gegen ein komplett idiotisches Bauprojekt, das viele Milliarden verschlingt und im Vergleich zum Jetzt keinerlei Nutzen bringt, dafür aber jahrzehntelanges Bauchaos. Und es ist tatsächlich so: jeder, der sich halbwegs über Stuttgart 21 informiert, lehnt das Projekt ab. Zurück bleiben die IHK, der unfähige Bahnvorstand und einige treudoofe Parteisoldaten von CDU, FDP und einige bemitleidenswerte Sozis. Aber keine Angst: wir werden S21 verhindern.
Zur Erfrischung dann das traditionelle Warm-up-Bier im nahe gelegenen Palast der Republik, danach gleich zum seit 26 Jahren existierenden Club Röhre, tatsächlich eine nie fertig gebaute Tunnelröhre, die im Zug von S21 aber auch verschwinden soll. Dort spielen an diesem Abend die furiosen norwegischen Newcomer Kakkmaddafakka – was für ein Spaß!
Die Band ist fast noch jünger als das ebenso jugendliche wie überwiegend weibliche Publikum und spielt einen mitreißenden, unbeschwert geschichtslosen Indie-Disco-Sound. Das meiste Pulver haben die Schützlinge von Erlend Oye zwar nach einer halben Stunde verschossen, dennoch prophezeie ich der Band eine große Zukunft. Allein schon wegen des Luxus, mit acht Leuten die Bühne zu bevölkern, darunter allein drei grandiose choreographierte Tänzer und Chorsänger. Mehr gute Laune mit wildem Bühnentanz, enthemmtem Herumhopsen und sich nackig machen geht ganz sicher nicht. Bitte auch hier bei Gig-Blog nachlesen – die haben auch wieder die allerschönsten Fotos.
Da man für die jungen Leute schon kurz vor neun begonnen hat, fahre ich auf dem Heimweg noch schnell am Schocken vorbei – dort spielen Dub Trio aus New York, von denen ich dann auch noch eine knappe Stunde mitkriege. Deren Auftritt ist dann in fast jeder Hinsicht das exakte Gegenteil von Kakkmaddafakka: unter den knapp 50 Anwesenden fast keine Frau, dazu ernstes Schweigen, keine Ansagen und auch sonst eine eher sakrale Stimmung. Das könnte aber auch an der enormen Lautstärke der Instrumental-Band liegen. Der Drummer – mindestens der technisch Beste, den ich je sah, hatte aus gutem Grund ein schweres Beton-Fundament vor seiner Bassdrum platziert, denn angesichts des Lärms geriet im Schocken wirklich alles ins Vibrieren.
Der Sound war dann leider wesentlich mehr Heavy-Prog in Slow Motion als Dub, aber trotz der unnötigen Emotionslosigkeit auf der Bühne und im Publikum saugt einen dieser mächtige Wall of Sound doch ganz schön ein.
Insgesamt ein kontrastreicher Abend, der hoffentlich beweist, dass man in Stuttgart doch allerhand erleben kann – sogar montags. Zu machen ist ein solches Kulturprogramm natürlich nur dank eines schamlos ausgenutzten Gästelisten- und Freibierwesens, von dem man als unterbezahlter shake baby shake-Reporter zu leben gelernt hat.
(Whirlyjoe)
2 Kommentare:
wären wir hier bei facebook, würde ich einfach den "Gefällt mir" Knopf drücken ...
Genauso stell ich mir die Wutbürger vor. Entweder in Frührentner oder professionelle Slacker.
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