Top Ten 2011
Heino „Little“ Walter
Dieses Jahr war sehr ergiebig, was die Veröffentlichung von guter Musik anging. Hatte ich die letzten beiden Jahre Mühe, 10 außergewöhnliche Hörerlebnisse auflisten zu können, so ergibt sich dieses Mal die Qual der Wahl aus vielen überdurchschnittlichen Platten, deshalb reichen auch 10 Nennungen nicht aus.
Comeback 2011:
Tom Waits - Bad As Me
Er ist der abseitige Held des Bildungsbürgertums. Anders ist es nicht zu erklären, dass solch eine komplexe, teilweise sperrige, unangepasste Musik in die Verkaufs-Top 10 gekommen ist. Tom Waits überzeugt hier auf ganzer Linie. Die Songs sind abwechslungsreich in Bezug auf Tempo und Arrangements. Gesanglich ist er in Bestform. Die Balladen sind herzerweichend, sein Blues gemahnt aufgrund der Kompromisslosigkeit streckenweise an Captain Beefheart, seine Klangvariationen sind ehrgeizig, aber nicht verkopft. Ein Highlight im Schaffen des Meisters und mein Album des Jahres.
Ryan Adams - Ashes & Fire
Nachdem sein letztes Werk CARDINOLOGY (2008) doch arg mit Stadion-Rock a la U2 flirtete, ist er 2011 wieder back to his roots. Das Album erinnert angenehm an sein Solo-Debut HEARTBREAKER (2000). Es ist hauptsächlich akustisch ausgerichtet, besticht durch ausgereifte Melodien und ist dabei klar strukturiert. Ryan Adams beweist hier, dass er längst noch nicht ausgebrannt, sondern weiterhin einer der talentiertesten US-Songwriter ist.
Reissue 2011:
The Beach Boys - The SMiLE Sessions
Kein Reissue im herkömmlichen Sinne, denn Brian Wilson`s Teenage Symphony To God gab es bislang nur auf Bootlegs zu hören. Der Nachfolger zum bahnbrechenden PET SOUNDS Album führte ihn an den Rand der psychischen Verwirrung und liegt nun 44 Jahre nach dem Entstehen erstmalig in der ursprünglich geplanten Version offiziell vor. Jetzt kann man eine Zeitreise in eine Welt unternehmen, in der man hoffte, Musik könne sie zu einer Besseren werden lassen und sich an den Pop-Spielereien, an denen auch der große VAN DYKE PARKS beteiligt war, ergötzen. Legendär, für Fans von PET SOUNDS unverzichtbar.
Compilation 2011:
Spoonful
Auch wenn die letzten Ausgaben der Serie erst zu mir unterwegs sind, ich also noch nicht alles gehört habe, steht fest, dass SPOONFUL auch 2011 eine echte Bereicherung war. Gäbe es sie nicht, hätte ich wohl nie erfahren, was TITTYSHAKERS sind….
Red Hot & Rio 2
Die Red Hot-Organisatoren sammeln durch ihre Zusammenstellungen Geld für den Kampf gegen AIDS. Und wenn bei solch einer löblichen Aktion auch noch bemerkenswerte Musik entsteht, umso besser. Dieses Mal geht es um ein Tribut an die brasilianische Tropicália-Bewegung von Ende der 60er Jahre, interpretiert von einer Kollaboration aus brasilianischen Künstlern und zeitgenössischen Pop-Musikern aus dem anglo-amerikanischen Raum. Da tun sich spannende Verbindungen auf. So trifft BECK auf Seu Jorge und präsentiert sein Tropicália vom Mutations-Album in neuer Version. ALOE BLACC ist mehrfach vertreten und macht auch im Soul-Latin-Electronic-Crossover-Bereich eine gute Figur. Mein Favorit ist aber die Phenomenal Handclap Band + Marcos Valle. Easy Listening trifft da auf Westcoast-Feeling. Überhaupt geht von der Musik eine Leichtigkeit und lockere Beschwingtheit aus, die einem zumindest in Gedanken den Sommer ersetzt, den wir dieses Jahr nicht hatten.
Westcoast Sound 2011:
Jonathan Wilson - Gentle Spirit
Der Kalifornier mit Verbindung zu JACKSON BROWNE findet genau die richtige Balance aus psychedelischen Exkursionen, harmonischen Melodien und ausgeklügelten Arrangements. Er filtert damit die Essenz aus der kreativen Hochphase des Westcoast Sounds Anfang der 70er Jahre, in der Alben wie IF I COULD ONLY REMEMBER MY NAME von David Crosby mit ihren einzigartigen Sounds entstanden sind. Cosmic Americana.
D. Charles Speer & The Helix - Leaving The Commonwealth
Fast vergessene Künstler wie der ex- Monkees MICHAEL NESMITH oder MICHAEL DINNER sowie die Grateful Dead-Freunde NEW RIDERS OF THE PURPLE SAGE kommen mir beim Hören in den Sinn. Große Vorbilder, die glänzend ins Hier und Jetzt transferiert werden. Absolut herausragend ist dabei der Pedal-Steel-Player Marc Orleans. Bester Retro-Country Rock.
Jesse Sykes & The Sweet Hereafter - Marble Son
Die Gitarristin und Sängerin mit der angenehm angerauten altersweisen Stimme - manchmal nicht unähnlich der von MARIANNE FAITHFUL - zeigt sich stilistisch offen. Auf MARBLE SON werden Einflüsse des Westcoast Sounds und des Folk-Rocks der späten sechziger Jahre verarbeitet. Aber auch Verweise an den psychedelischen Retro-Sound der achtziger Jahre, der solche Bands wie THE DREAM SYNDICATE und MAZZY STAR hervorgebracht hat, sind hörbar. Prägendes Element sind die fließend-gleitenden epischen Gitarrenlinien, die die Melodieführung unterstützen und nur manchmal eruptiv explodieren. Das erinnert an die Einspielungen der frühen QUICKSILVER MESSENGER SERVICE um John Cippolina und Gary Duncan. Man kann auch Referenzen an FAIRPORT CONVENTION, als Richard Thompson noch Mitglied war, heraushören. Es drängen sich auch Vergleiche zu JEFFERSON AIRPLANE auf. Aber auch MARQUEE MOON von TELEVISION mit den Twin-Guitar-Künsten von Tom Verlaine und Richard Lloyd dient als Bezugspunkt. Jesse Sykes beweist mit MARBLE SON Mut und Können, sie verlässt eingefahrene Pfade, entwickelt sich weiter und macht spannende, innovative Musik.
Folk Album 2011:
Gillian Welch - The Harrow & The Harvest
Wenn Gillian Welch mit ihrem musikalischen und Lebenspartner David Rawlings musiziert, bleibt die Zeit stehen. Alles andere ist dann egal. Sie ziehen einen völlig in ihren Bann mit ihrer unaufdringlichen, perfekt umgesetzten, traumhaft schön in sich ruhenden Musik. Seelenbalsam.
Ben Howard - Every Kingdom
Der Brite ist der aufgehende Star der Folk Szene. Er verkörpert alles, was einem an den Individualisten John Martyn, Nick Drake und Richard Thompson so fasziniert. Seine Kompositionen sind gediegene, wohlüberlegte, raffinierte Angelegenheiten. Er verbreitet intensive Melancholie, kann aber auch Up-Tempo-Elemente begeisternd integrieren. Zudem ist er ein brillanter Gitarrist und ausdrucksvoller Sänger. Trotz Bandbegleitung bleiben die Arrangements stets luftig und entspannt. Wo nimmt der 23jährige Mann bloß seine Souveränität her?
Laura Marling - A Creature I Don’t Know
Folk ist immer dann spannend, wenn er als Bindeglied zu anderen Stilen benutzt wird. Eine Eigenschaft, die z.B. JONI MITCHELL perfekt einzusetzen wusste. In dieser Tradition sehe ich auch Laura Marling. Auch sie ist eine Grenzgängerin, die sich nicht auf traditionelle Spielweisen reduzieren lässt, die Risiken eingeht und selbstbewusste Lieder schreibt. Ein zartes Persönchen mit großem Potential.
Mirel Wagner - Mirel Wagner
Mirel Wagner singt auf ihrer CD nur zur akustischen Gitarre begleitet. Ihre intensiven, kargen Songs bedienen aber keinesfalls klassische Folk- oder Bluesmuster. Sie erinnert in ihrer Düsternis und Schwere an Nico (ex-Velvet Underground). Der Gesangsstil hat die Ausdrucksform und -kraft des jungen Leonard Cohen. Die starken Melodien enthalten häufig sich wiederholende, hypnotische Passagen. Man kommt auch in der Beurteilung an einer gewissen Nick Drake-Verwandtschaft nicht vorbei. Hat man sich auf die finstere Darbietung eingelassen, gibt es kein zurück mehr. Man ist gefesselt und gerät in einen Sog. Widerstand zwecklos.
Soul/Funk Album 2011:
Sharon Jones & The Dap Kings - Soul Time!
Auch wenn SOUL TIME! keine richtig neue CD ist, so ist sie dennoch eine Freude für denjenigen, der bisher nicht alles von ihr komplett hatte. Sie bleibt die Speerspitze des Retro Soul/Funk und die Dap Kings sind einfache eine knackige Begleitband. Mitreißend.
Rock`n`Roll Album 2011:
The Black Keys - El Camino
Wenn die jeweiligen Veröffentlichungen der Black Keys ihre aktuellen Favoriten widerspiegeln, dann müssen sie viel T. REX gehört haben, denn der Bolan-Boogie lugt an einigen Ecken deutlich hervor. Aber natürlich kultivieren sie auch frühen Rock`n`Roll, Soul und deftigen Blues in ihrem Sound, den sie schlauerweise aus dem Gitarre-Drums-Dogma befreit haben. Und ihr LONELY BOY ist meine Single des Jahres.
Juke Joint Pimps & The Gospel Pimps - Boogie The Church Down
Die Juke Joint Pimps legen los, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her. Sie zapfen die gleichen Quellen an, die schon für die eindringlichsten Momente bei den CRAMPS und beim GUN CLUB gesorgt haben: Little Richard, Elmore James, John Lee Hooker, Hound Dog Taylor, Howlin` Wolf. Sie spielen schweißtreibenden, bedrohlichen, rauen, dreckigen Rock`n`Roll mit ganz viel Boogie- und Rockabilly-Schwung. Ekstase und ein primitiver Rhythmus prägen den Sound. Schroffe, trockene Riffs und scharfe, schmierige Slide-Einlagen sind stilbestimmend. Der Gesang ist kantig und kraftvoll und wird öfter von Gospel-Chor-Einlagen veredelt. Dann wird die Stimmung auch mal bedächtiger, bleibt aber energiegeladen.
Deutschsprachiges Album 2011:
Niels Frevert - Zettel auf dem Boden
Der ehemalige Sänger der Formation NATIONALGALERIE verbindet Alltags-Poesie mit fast kammermusikalischer Untermalung. Als Basis dienen Akustik-Gitarre oder Piano, gefühlvolle Streicher und Bläser sowie etwas Schlagwerk runden das Gesamtbild ab. Frevert betreibt keine Effekthascherei oder verliert sich in elitärem Gedudel. Er pendelt wohltuend zwischen Pop, Chanson und Kunstlied, behält dabei aber ständig Bodenhaftung. Er spielt im deutschsprachigen Raum in einer eigenen Liga.
Die besten Wünsche für das neue Jahr, vor allem bezogen auf Gesundheit und gute Musik, sendet
Heino "Little" Walter
4 Kommentare:
bravo, heino. tolle musik, mit fachkenntnis und leidenschaft beschrieben. warum bist du eigentlich nicht beim rolling stone? die brasil-compilation hätte ich ja wirklich gerne als vinyl...
Sehr schöne sowie sach- und fachkundige Liste. Tom Waits (bisher 1 Durchlauf) muss ich wohl noch öfter hören. Ansonsten gibt es sehr viel Überein- und Zustimmung mit Mirel Wagner, Jesse Sykes, Jonathan Wilson etc.
Frohes Fest für den Roadtrackskollegen und alle shake baby shaker!
Günter
Völlig richtig! ich hab viel T-REX gehört!
BadaRex!
.....und SGS#3 findet Ihr hier:
SGS#3 : http://www.megaupload.com/?d=XCYWH3E8
that's it!
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