The 2009 Chronicles
R-Man
Heute ist der 25. Dezember und es ist mein 52. Geburtstag. Ich schreibe das nicht, weil ich jetzt ein Gratulationsjäger bin, nichts liegt mir ferner, als mich jetzt beglückwünschen zu lassen. Tatsache. Aber an Tagen wie diesen blickt man ja zurück, sagt man jedenfalls. Und da ich keinen Kater habe, will ich mal das musikalische Jahr 2009 Revue passieren lassen. Ich suppe jetzt mal etwas rum, kann auch länger werden, aber Internet ist geduldig…
Eigentlich bin ich ja zu alt für Musik… es müßte ja irgendwann mal aufhören, denkt man. Aber noch immer sauge ich mit einer Gier neue Musik in mich auf, daß ich mich selber manchmal wundere. Und noch immer kann ich mich mordsmässig begeistern, auch wenn ich ja fast Berufshörer bin, also auch Musik hören
muss!´
Im Prinzip habe ich mich in diesem Jahr zeitlich/musikalisch weiter nach hinten bewegt. In den letzten Jahren hat es ja für mich sowieso eine Rückbesinnung an alte Klänge gegeben und meine freie Zeit verbringe ich vorwiegend mit Schätzen, die (um es mal abzugrenzen) alle vor 1972 aufgenommen wurden. Und das (fast) immer mit den Augen und Ohren eines DJs (kein guter, aber egal), also Groove, Tempo und Tanzbarkeit als Parameter dafür, ob ich mich denn damit beschäftigen will. Oder nicht. Würde ich es in einer Bar/einem Club auflegen? Ja! OK, dann her damit!
Dabei ist der Funk (ohne dicken Daumen) etwas in den Hintergrund geraten, Soul in jedweder Schattierung (gerne auch uptempo und funky) aber noch immer gern gehört, dazu natürlich immer wieder zur Abwechslung eine Prise Rocksteady und hin und wieder ein paar Ska-Tracks. War ich vor ein paar Jahren noch überzeugt, daß alles vor 1965 nicht mein Ding ist, so ging es in den letzten 12 Monaten mächtig zurück in der Zeit. Langsam habe ich mich an die 60er Grenze gewagt, bin darüber hinaus und habe mir sogar Musik ab 1950 angetan. Natürlich vorwiegend Rhythm`n´Blues, dazu Blues Bopper und Jump Blues (also uptempo Zeugs) und gar Rockabilly in kleinen Häppchen (wobei mir immer klarer wird, daß Rockabilly fast Punkrock sein konnte, bevor er irgendwann zum Klischee erstarrte). Das Problem ist wie immer die Suche. Der Zeitaufwand ist enorm und die Gefahr, sich sowohl die Ohren total zu versauen als auch ob der schieren Masse die Orientierung zu verlieren, ist jederzeit gegeben. Ich mag eben die etwas anderen Titel, abseits vom Standard, wo so richtig Blut, Schweiß und Tränen aus den Rillen tropft. Aber die Suche kann dauern und wurde schon oft frustriert abgebrochen! Wenn der `billy zu vorhersehbar wird oder man im R&B nur das Saxophon tröten hört, dann bekome ich ganz schnell schlechte Laune.
Da hilft das Internet und diverse Spezialisten-Blogs doch gewaltig bei der Vorauswahl. Auf diese Weise habe ich auch 2009 jede Menge Tunes gefunden, die ich auch im hohen Alter noch zehn Mal hintereinander mit extremen Enthusiasmus gehört habe. Und die ich dann gerne und oft aufgelegt habe, bei den kleinen und großen Events, bei denen ich das durfte. Es gibt für mich kaum etwas schöneres, als Killertracks wie Stop Arguing Over Me (Big Lucky), Do The Sho Flo (Carter Brothers), I Keep Tryin' (Fred Hughes), Clap Your Hands (Memphis Slim) oder I Can't Please You (Jimmy Robins) zu entdecken, sich daran zu erfreuen, sie aufzulegen und zu sehen, wie junge Menschen darauf tanzend einsteigen. So höre und kaufe ich schon seit Jahren Musik, nicht für das Sofa, nicht auf der Suche nach einem neuen Album irgendeines Künstlers, sondern Song für Song. Gerne auch auf 7" (allerdings lasse ich mich da auf keinen Preiskampf ein), aber natürlich auch auf Compilations. Da sind mir manchmal gar CDs lieber, weil man sich den einen Track runterziehen kann und nicht deswegen eine ganze LP mitschleppen muß. So sieht das aus...
Sowieso Compilations. Ich habe mir 2010 nur wenige Artist-Alben gekauft oder angehört. Ich liebe es, wenn sich andere Leute mit mehr Geld, Zeit und Sachkenntnis die Arbeit machen, und die coolen Tracks irgendwelcher (semi-)legendärer Künstler raussuchen oder Superraritäten ausbuddeln, sie ordentlich aufbereiten und dem Fan zugänglich machen. Aktuelle Musik und Bands habe ich auch gehört, muss ich ja schon zwangsläufig als Glitterhouse Mailorder Reviewer, aber das konnte mich alles dieses Jahr nicht mehr so aus der Reserve locken, wie der alte Stoff. So extrem war es eigentlich noch nie, aber egal, ich bereue nichts...
Aber was wären die Jahrescharts ohne tatsächliche Charts? Ein Scheiß! Also beuge ich mich mal dem Listenzwang:
1. Eli Paperboy Reed & The True Loves - live
Eli Reed und sein Sextett durfte ich in Austin/Texas zwei Mal live erleben, einmal in einem Vintage-Klamottenladen mit einer Bühne von der Größe einer Briefmarke und dann nachmittags in einem Biergarten. Eli Reed ist ein sympathischer Weißbrot-Nerd, der auf der Bühne zu einem echten Soulmonster mutiert. Gitarre und Stimme nicht von dieser Welt. Einfach nur mitreißende Gigs, trotz laidback Atmo in den Locations. Der Gig in Hannover war dann eher routiniert, aber da war auch nichts, was mehr Einsatz wert gewesen wäre. Danach habe ich die Platte mit neuen Ohren gehört. Anfang 2010 kommt eine neue, Ohren auf!
2. Black Joe Lewis & The Honeybears – live und Platte
Das Sextett um den spindeldürren Mr. Lewis habe ich auch nachmittags in Texas live erleben dürfen und der Mann hat mich bei 35 Grad im Schatten völlig begeistert. Zu den beiden Abendshows wurden wir leider nicht eingelassen, in voller Fahrt hätte ich den auch gerne mal erlebt. Das Album Tell `Em What Your Name Is gehört ganz oben in meine Jahres-Top-10. Old school R&B/Soul, wie er heute nur noch selten gemacht wird.
3. King Khan & His Shrines – live
Zwei Mal in Texas live erlebt, beides richtig großartige Shows. Der Gig nachmittags im Emo’s (welch ein Laden!) war ein echter Hammer. In Hamburg beim Reeperbahnfestival hat der King dann eher zu früh im falschen Laden (Docks) gespielt, war aber trotzdem gut. Geile Truppe!
4. R`n´B Meets Northern Soul Vol. 2, This Is DJ’s Choice Vol. 2 und Memphis 60
Stellvertretend für so viele Compilations, die es mir 2009 so richtig besorgt haben. Die hier genannten kamen spät im Jahr und deswegen kann ich mich an die am besten erinnern.
R`n´B Vol. 2 ist von vorne bis hinten ein Knaller, zeitlich ziemlich stringent auf den Punkt und ein Killersong jagt den nächsten (Vol. 1 taugt auch, aber Vol. 2 ist besser). Fave Tune: Johnny Williams - Honey Child. Ach ja, wird dieses Vinyl-only Teil beim Mailorder eures Vertrauens geordert, dann gibt es die CD-Promo-Version umsonst dazu (banging my own drum).
DJ‘s Choice 2 war dann ein zündender Mix aus Jump-Blues, Rockabilly und Northern Soul. An die wilden Stilsprünge musste man sich erst gewöhnen, aber im Prinzip ist es ja das, was ich als DJ immer propagiere: bloß nicht den ganzen Abend den gleichen Scheiß spielen! Fave tune: Blanche Thomas - You Ain't Such A Much.
Memphis 60 kam auf Ace/Kent und bot eine exzellente Selection diverser 60s-Tunes aus der Stadt in Tennessee. Zwischen Soul und R&B, durchweg wundervoll. Fave tune: Prince Conley – I’m Going Home und Willie Cobbs – You Don’t Love Me.
Damn it, die Buttshakers LPs habe ich noch vergessen...
5. New Breed R&B
Drei Volumen hat die Firma Ace/Kent seit 2002 unter diesem Titel veröffentlicht und alle drei hatte ich 2009 immer nah am Player. Denn das ist genau der Sound den ich liebe, direkt an der Schnittstelle von funky Blues, frühem, wilden Soul und klischeefreiem Rhythm`n´Blues. Absoluter Killershit. Auf allen New Breed Compis hatte man etwas Popcorn untergemischt.
6. Popcorn
Zugegeben ein blöder Name für einen Style. Aber da Anfang der 70er ein paar belgische DJs in einer total abgelegenen Dorf-Disco namens Popcorn diese Art von Musik auflegten und das Genre damit quasi erfanden, blieb "Oldies Popcorn" (noch schlimmer) als Begriff haften. Jenseits der belgischen Grenzen geht der Sound als Popcorn durch und ist gerade mal wieder angesagt. Die Popcorn-DJs waren alles andere als linientreu, denn neben Rhythm`n´Blues kam auch Ska, Latin-Zeugs und allerlei Teen-Pop (inklusive Paul Anka) auf den Teller. Aus dem wahrscheinlich für mich nicht einfach zu goutierenden Mix habe ich mir den R&B rausgepickt und was damals so gedroppt wurde, ist schon saucool. Denn Popcorn bewegt sich fast durchweg im Midtempobereich und hatte einen ordentlichen Groove, wozu man damals wohl einen eigenen, ziemlich athletischen Tanz entwickelte. Die Tunes waren dazu schwer melodisch und hatten noch reichlich Doowop-Einflüße – das geht runter wie Öl. Hört man mal ein paar Popcorn-Tunes, ist man schnell infiziert (wenn man überhaupt für sowas eine Ader hat). Ohne jahrelange Vorkenntnis habe ich schließlich im Oktober Chills & Fever – 31 sizzling tunes Popcorn-style zusammengestellt und bei Spoonful als Vol. 26 eingereiht.
7. Spoonful
Erst hatte ich hier als Punkt 7 Fat Freddys Drop stehen, aber Spoonful war doch viel wichtiger für mich. Alles begann im Mai 2007 nach dem Orange Blossom Special ab Mitternacht im Stadtkrug. Peter Felkel schrob damals: „Michael J. Sheehey und Patrick McCarthy, sein Co-Gitarrist, Co-Glatzkopf und Co-Bruder, legen auf - alles zwischen Surfsounds, gespielt von Marsianern, und Deltablues aus der Jungsteinzeit, Captain Beefheart und bluttriefendem Gospel.“
Das hat uns Decksharks damals so geflasht, dass wir unter dem Titel Spoonful eine 6er-CD-Box zusammenstellten, mit eben diesen Sounds und noch viel mehr. Daraus hat sich eine Serie entwickelt, die mittlerweile bei Nummer 30 angelangt ist. Der Spoonful-Kosmos ist immer in Bewegung, besteht aber grundsätzlich aus Soul und frühem Funk, Rhythm & Blues, 60-Garage-Punk, dem britischen Gegenstück, dazu mittlerweile auch Rock`n´Roll und frag mich nicht was sonst noch. Normalerweise basteln vier Digger ein Volumen zusammen, jeder liefert 20 Minuten aus seinem Fundus. Aber es gibt auch das eine oder andere Solo oder Special (z.B. skank baby skank mit Jamaikanischen). Keine Ahnung, wie viele CDs wir dieses Jahr compiliert haben (zehn ?), aber es war durchweg eine wahre Freude, selber nach Tracks für seine 20 Minuten zu suchen, die anderen Selections zu hören, begeistert zu sein und das alles zu einem Ganzen zu modellieren. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Cooler Stoff, viel mehr braucht man nicht.
8. Roll Your Moneymaker
2008 bei Trikont als CD erschienen und früh im Jahre 2009 auf meinem kleinen Stag-O-Lee Label als Doppelvinyl veröffentlicht worden, haben mir diese „24 slabs of early black rock`n´roll“ (von 1948-58) Mut gemacht, tiefer in den 50ern zu förscheln. Und da gab es jede Menge Schätze zu heben, die das diggen eine reine Freude haben werden lassen!
9. Shake `Em On Down
An den Jump Blues kann ich mich (vorerst?) nur in kleinen Häppchen gewöhnen, zu schematisch scheint mir der Uptempo Big Band Sound. Das denkt man ja vom Blues allgemein und wahrscheinlich liegt man damit richtig. Das als „Blues Bopper“ beschriebene Mini-Segment habe ich bei meinen Trips in die 50er schließlich auch kennen und lieben gelernt. Die allerbeste Vorarbeit haben dabei die Flattop Brothers geleistet, ein beklopptes Brüderpaar aus Nordengland. Bekloppt im guten Sinne, denn sie sind für die obige Serie verantwortlich, die es mittlerweile auf 6 Volumen (also knappe 140 Tunes total) gebracht hat. Vollgas-Blues & Boogie von alten Helden wie John Lee Hooker (der hier mehrfach vertreten ist) und anderen, geschätzten 12-Taktern, aber eben auch jede Menge Ausgrabungen und unbekanntere Künstler. Das kann man alles bei den guten DJ-Abenden auflegen, weil es direkt kickt und ich danke den Flattop Brothers dafür, dass ich jetzt keine 500 Blues-LPs mehr durchhören muss, um diese Juwelen heraus zu filtern.
10. Cut In The Hill Gang, The Fabulous Penetrators, The Death Letters – live
Drei Stag-O-Lee Bands, die mir auf der Bühne 2009 viel Freude bereitet haben. Die Death Letters, weil sie mit ihrem jugendlichen Ungestüm und instrumentalen Finesse nachmittags beim Stag-O-Lee Shakedown dafür gesorgt haben, dass die Kinnladen reihenweise runter klappten. Oder die Cut In The Hill Gang, einen Punk-Blues Veteranentrio, das nach einem 14 Stunden Ritt aus dem Norden Frankreichs nach Stuttgart noch gute Laune hatte, kein bisschen rumbitchte und übermüdet den vielleicht geilsten Garagerock-Gig hinlegten, den ich seit Jahren gesehen habe. Fett wie Sau! Und natürlich die Fabulous Penetrators, eine wilde Bande, fünf Typen aus fünf Ländern, die mich live noch jedes Mal mitgerissen haben und die vor und nach dem Gig so anstrengend sind wie eine Horde Kleinkinder. But I love 'em. That’s Rock`n´Roll!!!
Fazit: trotz reichlich Lebens-Unbill im Jahre 2009 ist die Liebe zur Musik geblieben bzw. wieder da. Und erstrahlt eigentlich im vollen Glanz. Wenn ich an die CD mit meinen aktuellen 20 Lieblingstracks denke (fast alles R&B-Burner um die 60er Wende), die ich mir für das Auto gemacht habe, dann kriege ich so richtig glänzende Augen. In diesem Sinne: weitermachen! A rolling stone gathers no moss! Oder: “Lebbe geht weida!” (Stepanovic) Muss ja. (R-man)
PS: Gerade brachte die Post ein Päckchen von der UK-Filiale eines Feindversenders mit folgenden Stoff, nur damit ihr mal einen Eindruck habt: The R&B Years 1955, The R&B Years 1956 Vol. 1, The R&B Years Vol. 2 (jeweils Doppel-CDs mit 50 Songs), The Cosimo Matassa Story (4-CD, New Orleans R&B), Soul Of Sue Records New York City, Shuckin’ Stuff (2-CD. Rare Blues from Ace Records), Tamla Motown Connosseurs Vol. 2.
Linkage
Ich folge hier dem Tip zweier wichtiger Männer in meinem Leben. Zum einen Frank Zappa, dessen Motto „Alles was nicht in den Mund passt, ist sowieso Verschwendung“ ich in diesem Zusammenhang nicht meinte, sondern „We’re only in it for the money“! Und der K-nut, der gestern noch schrob: „Etwas Eigenwerbung kann nicht schaden!“ Here we go...
Eli Paperboy Reed & The True Loves
...und viel gutes gibt es in der Stag-O-Lee Jukebox